Geißendörfers Gebrauchsfernsehen

Mai 7th, 2011 | By | Category: Flimmern und Rauschen

Es begann alles an einem Sonntagnachmittag auf einem Sofa in London. Hier saß der deutsche Filmemacher, Regisseur und Autor Hans W. Geißendörfer. Nicht freiwillig. Seine Freundin hatte ihn dort geparkt. Ihn, der extra aus Deutschland nach London gereist war, um mit ihr zusammen zu sein. Und Sie? Schaut stattdessen ihre Lieblingsserie im Fernsehen: Coronation Street.

Was um Himmels Willen konnte denn wichtiger sein als er? Nun ja, ganz offensichtlich: Alltagsgeschichten aus einer Reihenhaus-Straßenzeile irgendwo in England. Coronation Street läuft immer noch erfolgreich im britischen Fernsehen. Die englische Freundin ist längst seine Frau. Und dem deutschen Fernsehen hat Geißendörfer mit der Lindenstraße einen Dauerbrenner im sonntäglichen Vorabendprogramm beschert. Auch 25 Jahre und 1306 Folgen nach dem Start, zieht die erste deutsche Seifenoper ihr Publikum noch in ihren Bann.

Der Anfang allerdings war hart. „Glitzer und Glamour, Hotel- und Krankenhausserien. Das ging immer. Aber Kleinbürgerleben im Mietshaus? Das hat keinen vom Hocker gerissen“, sagt Geißendörfer rückblickend. Aber er setzt sich durch. „Ich wusste, ich hab’ was zu erzählen, eine Geschichte, die nie aufhört.“ Tatort-Erfinder und WDR-Fernsehspielchef Gunther Witte nimmt sich der Sache an – und gibt grünes Licht. Doch die ersten Kritiken sind vernichtend. „90 Prozent davon waren fachunkundig. Da hat jemand maximal eine Folge gesehen und sich dann ein Urteil angemaßt. Das hat uns getroffen und es gab Tränen in der Maske. Auch um meine Schauspieler aufzubauen, denen bescheinigt wurde, dass sie einen fetten Arsch haben oder Beton reden, hab’ ich die Losung rausgegeben: Die Schreiber werden nicht mehr sein, aber uns wird’s noch in 20 Jahren geben“, erinnert sich der Lindenstraßen-Erfinder. „Und irgendwann konnte auch die Bild-Zeitung nicht mehr gegen ihre eigene Leserschaft anschreiben.“

Geißendörfers Anspruch an seine Serie: „Auf unterhaltsame Art schwierige Themen ans Volk bringen“. Und das gelingt am besten – da ist sich der Autor, Regisseur und Produzent ganz sicher – wenn sich die Leute in Handlung und Milieu wiedererkennen. Lebten die Lindensträßler vor 25 Jahren noch ganz klassisch als Vater, Mutter und Kinder unter einem Dach, wohnen heute Singles, Paare, Patchwork- und Regenbogenfamilien oder Wohn- und Zweckgemeinschaften neben- und durcheinander in Deutschlands berühmtester Straße.

Ein Vierteljahrhundert Lindenstraße – das heißt auch: ein Vierteljahrhundert deutsche Geschichte. Der erste schwule Kuss im deutschen Fernsehen? Der wird in der Lindenstraße gezeigt, die wie ein Seismograf die aktuellen gesellschaftlichen und politischen Erschütterungen aufzeichnet. Sterbehilfe, Ausländerfeindlichkeit, Aids, Wiedervereinigung, militanter Islamismus, Homosexualität, Genforschung, Hartz IV und natürlich die gesamte Bandbreite persönlicher Dramen von Trauer über Krankheit, Scheidung und Depression: Alles hinterlässt Spuren in der Lindenstraße, wo gelebt, geliebt und gelitten wird.

Und das mit Erfolg. 3,5 Millionen Zuschauer leben, lieben und leiden jeden Sonntagabend um 18.50 Uhr im Ersten mit den Beimers, Zieglers, Stadlers und Zenkers mit. „Das Erfolgsgeheimnis bleibt ein Geheimnis. Sonst würden uns andere kopieren. Wir lieben die Realität. Das hat sicherlich großen Anteil am Erfolg. Bei uns gibt es keine aufgehübschten Model-Mädchen, die ständig bauchnabelfrei rumlaufen, und keine Jungs mit Sixpacks, die Fotografen sind oder eine hippe Kneipe führen. Unsere realistische Welt spricht die Zuschauer viel mehr an“, sagt Irene Fischer. Die muss es wissen. Seit 1987 spielt sie die Rolle der Anna Ziegler und seit elf Jahren schreibt sie neben zwei anderen Autoren die Drehbücher für die Serie. Die Storylines sind den gesendeten Folgen bis zu anderthalb Jahre voraus. Dennoch reagiert die Lindenstraße ganz aktuell. „Wir lassen uns sehr konkret auf das Zeitgeschehen ein und aktualisieren bei Bedarf jede Woche eine Szene, die dann donnerstags erneut gedreht wird“, erklärt Fischer. Das Thema muss natürlich zu den Figuren passen, die in dieser Folge spielen. Jede Menge Arbeit für Autoren und Dramaturgie. „Diese Mühe macht sich sonst keine Serie.“

Die Lindenstraße hat aber von Anfang an keine Angst vor dem Trivialen gehabt. „Dieses Format weicht der Trivialität ganz bewusst nicht aus. Ich weiß sehr genau, dass man mit einer relativ einfachen Erzählstruktur arbeiten muss, wenn man ein großes Publikum erreichen will. Ich muss nicht Kafka erzählen, wenn ich verstanden werden will, sondern eine geradlinige Geschichte. Aber die Lindenstraße war nie eine reine Seifenoper, auch wenn Liebe und Drama natürlich eine große Rolle spielen. Wir sind eine Familienserie und die Geschichten, die wir erzählen, sind ganz klar logisch aufgebaut: Auf A folgt B. Bei einer Soap, die rein emotional funktioniert, kann auch mal A auf B folgen“, erklärt Produzent Geißendörfer. Für solches „Flachlandgemüse“ ist er sich dann doch zu schade. „Bevor wir unseren Anspruch nach unten schrauben, hören wir lieber auf“, sagt der 69-Jährige.

Für sein Format bezieht Geißendörfer anfangs auch von Kollegen Prügel, die ihm, dem Autorenfilmer, Verrat am deutschen Kino und Fernsehfilm vorwerfen. „Ich mache sehr gerne Gebrauchsfernsehen“, sagt Geißendörfer dagegen. „Das ist keine Kasteiung. Das ist mit unglaublicher Lust besetzt.“ Lust am Geschichten-Erzählen. In Echtzeit. Wo eine Schwangerschaft eben neun Monate dauert und nicht zwei Minuten.

Gerade wurde der Vertrag für die Lindenstraße um weitere drei Jahre verlängert. Es sind keine schlechten Zeiten für die Lindenstraße, glaubt Produzent Geißendörfer: „Die Leute haben die Nase voll von dem ganzen Trash und dem oberflächlichen Fastfood-Gequassel. Ich glaube, dass es eine Zuwendung zu ernsthafteren Themen richtig massenweise geben wird. Das sieht man an den Protesten gegen Stuttgart 21 oder gegen die Castor-Transporte.“

Na dann: Alles Gute zum 70. Geburtstag!

Eva Stern | Foto: WDR

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